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"Hinter dem Horizont geht es weiter"

Anmerkungen zu den Plastiken von Leonard Lorenz von Heinz Friedrich

Kann Materie denken? Materie kann nicht denken. Aber sie ist Urstoff, sie ist das, sagt Aristoteles, "woraus alles entsteht." Aber um etwas entstehen, um es Form werden zu lassen, die (nach Goethe) >"lebend sich entwickelt", bedarf es der gestaltenden Kraft des Gedankens. Gefühle, Empfindungen sind nichts, wenn sie nicht in Erscheinung treten, und Gedanken verpuffen, wenn sie mit der Materie nur spielen anstatt sie formen.

Materie und Energie sind die beiden Pole, die, in Spannung zueinander, Leben ermöglichen und in Gang halten. Je größer die Spannung, umso intensiver das Leben, das sie garantiert. Das heißt: was lebt, lebt nur in ständiger Auseinandersetzung mit der Materie, aus der es lebt. Die Energie zwingt die Materie zur Form und Ausdruck; die Materie fordert die Energie zur Form heraus. Erlahmt die Kraft dieser Herausforderung, so erschlafft Materie zur toten Materie.

Der herausfordernde Form-Gedanke bedarf des schöpferischen Individuums, um sinnfällig zu werden. Das kreative Individuum wiederholt den Schöpfungsakt, indem es selbst Erscheinungsbilder des Lebendigen schafft. Der Bildhauer liefert für diese Individuation des Schöpferischen ein aufregendes Beispiel. Er nähert sich dem Stoff und bearbeitet ihn. Er setzt sich mit ihm auseinander und ringt ihm Form ab, um seine Vorstellungen von der Welt und seine Gedanken über die Welt in Erscheinung treten zu lassen und sie anschaubar und anfaßbar, also in unmittelbarster Bedeutung des Wortes "begreifbar" zu machen.

Formen sind verschlüsselte sinnliche Botschaften. Auch die abstrakte Chiffre bewahrt noch einen Rest von Sinnlichkeit. Wird die Chiffre nicht wahrgenommen, bleibt sie ohne Wirkung. Sie kann nicht entschlüsselt werden. Die Zeichen sind nichts, wenn sie nicht empfangen werden. Was aber vermitteln diese Botschaften? Sie vermitteln Nachrichten aus der vielschichtigen Wirklichkeit der Welt, in der wir leben und die wir sind. Sie vermitteln Welterfahrung durch den Dialog mit der Welt.

Muß der Künstler diesen Dialog erklären? Kann er ihn überhaupt "erklären"? Wenn er sein Werk erklären kann, ist oft etwas faul an dem, was er tut. Er denkt sich etwas aus und begründet es. Was er gestaltet, sind Kopfgeburten-Reflexionen über das Leben, aber nicht sinnlich begreifbares Leben. Darum heißt es zu Recht, der Künstler solle bilden, aber nicht reden. Die Sprache des Bildes ist sein Kommentar zu dem, was er tut.

Wir leben in einer Zeit, die Wirklichkeit rasant verbraucht. Der "unbehauste Mensch" (Holthusen) des 20. Jahrhunderts flieht in die Zukunft einer Maschinenwelt, um seine Unfähigkeit, eigene Wirklichkeit in Bild und Abbild herzustellen, zu kaschieren. Er verrät durch diese Flucht sich selbst. Denn seit es Menschen gibt, versuchen sie, sich nicht nur ein Bild von ihrer Wirklichkeit zu machen, sondern es auch eigenständig zu entwerfen und es sich dadurch zu eigen zu machen. Der Verlust der Bilder ist der größte Verlust, den der Mensch sich selbst zufügen kann. Er verliert sich selbst aus den Augen...

Der Bildhauer Leonard Lorenz weigert sich, den Bildverlust der Moderne hinzunehmen. Er verbindet das frühe Erstaunen über die bewußt gewordene Wirklichkeit und deren Wiedergeburt im Bild mit der späten, betroffenen Einsicht in die Versehrbarkeit dieser Wirklichkeit. Jenseits der Bildzertrümmerungen, der Verunsicherungen und Zerstörungen, denen unsere Erlebnis-Welt ausgesetzt ist, entwirft Lorenz neue Bilder der Welt, die in Wirklichkeit die alten unverbrauchten Bilder wieder zurückholen - die Bilder mythisch-mystischer Vorzeiten, in denen das Erstaunen über die eigene schöpferische Kraft mit dem Erstaunen über die Schöpferkraft des Universums übereinstimmt.

Plastische Transparenz, die sensibel die Botschaften des Raumes weitergibt - das sind die Charakteristika der Bilder, die Leonard Lorenz entwirft. Segel und Netzwerk, Schale und Kern: Das Metall verliert seine Schwere, die massive Materie beginnt zu schweben und zu vibrieren, ihre Oberfläche atmet und lebt. Nichts ist starr und tot und plump an diesen Bildwerken. Da ist, um mit Rilke zu reden, "keine Stelle, die Dich nicht ansieht...".

Schon die Titel, die Lorenz seinen Plastiken gibt, entwerfen das Programm seiner plastischen Philosophie. Sie lauten z.B.: "Resonanz oder Focus" oder "Wiederklang und Zusammenfassung". In der Tat: Diese Gebilde sind Radarstationen, die Botschaften empfangen und zusammenfassen jener Wirklichkeit, die hinter der Wirklichkeit sich verbirgt - jener Wirklichkeit, in der die Kepplersche Harmonie der Sphären erlebbar wird.

Gegenständlich oder ungegenständlich - diese Frage stellt sich hier nicht. Sie stellt sich überhaupt nicht gegenüber Plastiken. Ob ein archaischer Torso der Antike oder Rodin - geht man nahe heran an diese plastischen Figuren, so enthüllen sie ihre Ungegenständlichkeit, ohne daß sie an Anschauungskraft verlieren. Was bezwingt, ist die Symphonie der Formen, der Zusammenklang,der Linien und Volumina. Auch jenseits der vordergründigen Erscheinungsform menschlicher Wirklichkeit bleibt die Materie gestaltbar, sofern der gestaltende Wille die Kraft besitzt, der Materie Leben einzuhauchen und ihr Ausdruck zu verleihen.

"Hinter dem Horizont geht es weiter" - diesen Titel gab Lorenz seinem großen Schiff-Symbol, das, ruhend, elegant dahineilt zwischen Raum und Zeit und das jeder Erdenschwere zu trotzen scheint. Es kreuzt zwischen den Welten und zwischen den Wirklichkeiten,. Und es erkundet jene Landstriche hinter dem Horizont, die neue schöpferische Abenteuer verheißen: Erkundungen der Wirklichkeit hinter dem Wirklichen, wo es zu Unendlichkeiten weitergeht...

Prof. Dr. Heinz Friedrich,
Ehemaliger Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste.